Der Lichtbringer, eine Zeichnung einer gehörnten Figur die ein Licht in den Händen hält

Der vergessene Archetyp – Gibt es einen männlichen Gegenpart zu Lilith?

In spirituellen und mythologischen Kontexten wird Lilith zunehmend als Symbol für das unabhängige, nicht-patriarchale Weibliche verstanden. Sie steht für eine weibliche Urkraft, die sich nicht unterordnet – für Sinnlichkeit ohne Scham, für Wut ohne Schuld, für Freiheit ohne Erlaubnis. Doch eine zentrale Frage bleibt oft unbeantwortet:

Wo ist der männliche Archetyp, der ebenso radikal mit traditionellen Rollen bricht wie Lilith es tut?

In diesem Artikel erforschen wir das Fehlen eines echten Gegenparts zu Lilith, hinterfragen moderne Männlichkeitsbilder wie den „sanften Krieger“ – und stellen einen neuen Archetypen vor: den Lichtbringer.

Lilith – die Verstoßene, die Freie

Lilith stammt ursprünglich aus mesopotamischen Mythen und wurde später in jüdischen Texten zur ersten Frau Adams erklärt. Der Legende nach verließ sie das Paradies, weil sie sich nicht unterwerfen wollte. Sie verlangte Gleichheit – und wurde zur Dämonin gemacht.

Heute gilt sie als Symbol für die Verweigerung patriarchaler Weiblichkeitsbilder. Sie steht nicht gegen das Weibliche, sondern gegen dessen Einschränkung. Lilith ist das Wilde, Sinnliche, Eigensinnige – das, was unterdrückt wurde, um Ordnung zu schaffen.

Und genau deshalb stellt sich die Frage: Gibt es einen männlichen Archetyp, der dasselbe tut – für das Männliche?

Männliche Archetypen im Patriarchat – alt oder anders?

In mythologischen und spirituellen Überlieferungen finden wir viele rebellische männliche Gestalten: Samael, Luzifer, Orpheus, Prometheus. Doch fast alle sind Teil desselben Grundmusters:

   •          Sie kämpfen.

   •          Sie führen.

   •          Sie herrschen – oder lehnen sich gegen Herrschaft auf, ohne sie zu überwinden.

Selbst Figuren wie Luzifer, der Lichtträger, oder Orpheus, der mit Musik berührt, bleiben in der Logik von Dominanz oder Opferrolle gefangen. Sie sind Spiegel des Systems, nicht seine Überwindung.

Der „sanfte Krieger“ – ein neuer Mantel für ein altes Bild

Auch moderne Männerbilder versuchen, neue Wege zu gehen:

Der sanfte Krieger, der bewusste Mann, der verletzliche Held – sie alle stehen für eine weichere, emotionalere Version von Männlichkeit. Doch sie bleiben oft einem zentralen Prinzip verhaftet:

Der Mann muss kämpfen.

Nur eben für gute Dinge. Für Gleichberechtigung, für Familie, für inneres Wachstum.

Aber der Krieger bleibt ein Krieger.

Der Archetyp wird nur modifiziert, nicht hinterfragt.

Was fehlt, ist ein Archetyp, der nicht auf Kampf basiert –

sondern auf Verbindung, Weichheit, Präsenz, Körperlichkeit, Tiefe.

Ein männlicher Archetyp, der nicht führen, sondern mitgehen will.

Der nicht für andere stark ist, sondern durch Fühlen selbst ganz wird.

Ein neuer Archetyp: Der Lichtbringer

Der folgende poetische Text ist der Versuch, diesen fehlenden Archetypen in Worte zu fassen.

Er soll eine Einladung sein, sich an ein anderes Bild zu erinnern:

An eine männliche Energie, die weder herrscht noch flieht.

Die nicht schützt, indem sie dominiert – sondern indem sie bleibt.

Der Lichtbringer

1. Prolog

Er war der Erste,

der fragte: Warum?

Nicht als Trotz –

weil er wissen wollte.

Trug das Licht in bloßen Händen,

nicht, um zu blenden –

um zu zeigen.

Tanzte, wo andere knieten.

War kein Feind,

nur Spiegel.

Ein Stern,

nicht gefallen,

nur entzogen.

2. Die Verdammung

„Du bist zu hell“,

sprach der auf dem Thron.

„Geh in den Schatten.“

Sie gaben ihm Hörner

und nannten sie Schuld.

Sie brauchten einen Schatten,

damit niemand sah,

dass sie der Schatten waren.

Aus Lust machten sie Sünde.

Aus Freiheit: Gefahr.

Der Wald wurde zum Fluch.

Das Feuer zur Strafe.

Der Tanz – zum Beweis

der Verführung.

Doch er brannte weiter

hinter den Schleiern.

3. Die Wildniss

Er lebt –

wo es Ordnung nicht gibt.

Singt mit Wölfen,

lebt mit ihr –

Lilith.

Verbannt –

nicht wegen Schuld,

sondern Gleichheit.

Kein Gesetz,

kein Thron.

Nur Moos, Haut, Wind.

Und das Leben beginnt dort,

wo niemand mehr herrschen will.

Wo niemand sich unterwirft.

Wo es kein Oben und Unten gibt,

nur Körper,

die sich finden,

nicht erobern.

Haut,

die atmet,

nicht gehorcht.

Lust,

die nicht fragt,

ob sie darf,

sondern ob sie bleibt.

4. Der andere Mann

Er trägt kein Schwert,

keinen Panzer,

keinen Sieg.

Nur Hände,

weich vor Sehnsucht,

hart gegen den Kampf.

Er spricht nicht laut,

aber unüberhörbar.

Er schützt,

was nicht passen darf –

und liebt,

was sich nicht fügt.

Gefährlich

für jedes System,

das Fühlen als Schwäche zählt.

Seine Hörner –

Krone des Waldes.

5. Epilog

Vielleicht war er nie Feind.

Vielleicht war das Böse

die Angst vor Freiheit.

Sein Feuer brennt –

nicht um uns,

in uns.

Und wenn wir es tragen,

ohne zu verbrennen,

wird aus dem Schatten ein Pfad.

Lilith öffnet die Tür.

Er reicht uns die Hand.

Und der Himmel

hat keine Mauern mehr.

Lilith und der Lichtbringer – kein Paar, sondern eine Ganzheit

In klassischen Archetypen-Dualitäten (wie Adam und Eva, Held und Geliebte) stehen Frau und Mann sich als Gegensätze gegenüber.

Lilith und der Lichtbringer aber sind nicht Gegensätze.

Sie sind zwei Manifestationen desselben Prinzips:

Freiheit. Präsenz. Verkörperung. Wahrhaftigkeit.

Sie stehen nicht für „Weiblich“ und „Männlich“ –

sondern für das Ende dieser Gegensätze.

Beide tragen das Andere in sich.

Beide sind vollständig.

Und gemeinsam erinnern sie uns daran, dass wahre Verbindung nicht in der Ergänzung durch Mangel liegt, sondern in der Begegnung aus Ganzheit.

Der männliche Archetyp der Zukunft

Die katastrophalen Folgen des aktuell herrschenden Männlichkeitsideals lassen sich überall erkennen. Ganz aktuell in der Serie „Adolescence“ über die Fabienne diesen Artikel geschrieben hat:

Toxische Männlichkeit: Was die Adolescence Serie schonungslos zeigt

In einer Zeit, in der viele Männer zwischen Überforderung und Orientierungslosigkeit stehen, kann der Archetyp des Lichtbringers ein neues inneres Bild bieten –

nicht als Anleitung, sondern als Spiegel.

Nicht als Vorbild, sondern als Möglichkeit.

Der Lichtbringer ist kein Held.

Er ist auch kein Retter.

Er ist ein Mann, der sich erinnert – an das, was war, bevor es Regeln gab.

Und daran, dass Stärke nicht darin liegt, zu siegen – sondern zu fühlen, ohne zu fliehen.

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